Entgelttransparenz wirkt für viele Unternehmen wie die Büchse der Pandora: Wer sie öffnet, fürchtet Diskussionen, Nachzahlungen und einen Berg Arbeit. Gleichzeitig steigt der Druck – rechtlich, vom Markt und von Bewerbenden. Im Interview zeigt HR-Expertin Nicole Fromhold, wie du das Thema so angehst, dass es nicht nur die EU Entgelttransparenz Richtlinie erfüllt, sondern Recruiting, Fairness und Arbeitgebermarke stärkt.

Als Video anschauen: https://youtu.be/g-k1ggZ7BqI

Warum Entgelttransparenz plötzlich ganz oben auf der Agenda landet

Formal gibt es in Deutschland seit 2017 Regelungen zur Gehaltstransparenz. In der Praxis hat das Thema in vielen Unternehmen aber kaum stattgefunden. Der Druck fehlte, die Vorgaben waren abstrakt, der Alltag voller anderer Projekte.

Mit der neuen EU-Entgelttransparenz-Richtlinie ändert sich das.
Schwellen für Berichtspflichten sinken, Unternehmen müssen auskunftsfähig sein, Gehaltsstrukturen sichtbar machen und Abweichungen erklären können. Spätestens, wenn Mitarbeitende konkret nachfragen, reicht ein „Wir zahlen fair“ nicht mehr.

Viele Unternehmen reagieren darauf mit Abwehr:

  • „Wir sind zu klein, das betrifft uns noch nicht.“
  • „Wir machen einfach eine Tabelle für die Pflicht – und gut.“
  • „Zur Not benennen wir Stellen um, dann passen die Gehälter wieder.“

Kurzfristig mag das wie eine Lösung wirken. Langfristig verpasst man damit eine große Chance.

Warum Recruiter das Problem nicht allein lösen können

Im Recruiting landen gerade viele Erwartungen:
Gehaltsangaben in Stellenanzeigen, faire Angebote, Kandidatenmarkt, Bias-Vermeidung – und jetzt auch noch Entgelttransparenz.

Dabei ist klar:
Recruiter sitzen am Ende der Kette.

Sie bekommen von der Fachabteilung:

  • einen Titel,
  • ein grobes Budget,
  • und den Auftrag: „Bitte jemanden finden – gern günstiger, damit wir Spielraum haben.“

Ohne klare Gehaltsbänder, Joblevel und eine strukturierte Gehaltspolitik im Hintergrund kann Recruiting das Thema nicht lösen. Transparenz ist kein Gesprächstrick, sondern eine Frage des Systems.

Gehaltsbänder & Joblevel: Der Gamechanger im Recruiting

Ein zentrales Element im Interview: Gehaltsbänder und klar definierte Joblevel.

Wenn du als Unternehmen weißt:

  • welche Rollen es gibt,
  • welche Level dazu gehören (z. B. Junior, Professional, Senior, Lead),
  • und welche Gehaltsbandbreite pro Level gilt,

dann verändert das deinen gesamten Recruiting-Prozess.

Im Interview wird beschrieben, wie das in der Praxis wirkt:

  • Bewerbende werden auf Basis ihres Profils zunächst einem Level zugeordnet – zum Beispiel Mid-Level.
  • Im Gespräch wird transparent gemacht, auf welcher Stufe sie starten würden und welche Entwicklungsschritte möglich sind.
  • Wird jemand zunächst als „Junior“ eingestuft, ist aber in den ersten Monaten deutlich stärker als erwartet, kann die Einstufung – und damit das Gehalt – nach oben angepasst werden.

Für Bewerbende ist das ein riesiger Unterschied zum klassischen „Wir schauen mal“:

Das erste Mal haben viele das Gefühl:
„Hier gibt es eine echte Perspektive – und eine klar hinterlegte Logik dahinter.“

Gerade im Mittelstand kann das ein entscheidender Vorteil gegenüber Konzernen sein, in denen Karriere oft mit Ellenbogen und Intransparenz verbunden ist.

Titel-Wildwuchs aufräumen: Ohne Struktur keine Fairness

Ein weiterer Punkt aus dem Gespräch: Titel-Wildwuchs.

„Senior Manager“, „Lead“, „Head of“, „Expert“ – die Vielfalt ist riesig. Häufig werden Titel vergeben, um jemanden „aufzuwerten“, ohne dass:

  • die Rolle klar definiert ist,
  • Verantwortung wirklich wächst,
  • oder das Gehalt dazu passt.

Für Entgelttransparenz ist das Gift.
Denn faire Bezahlung setzt voraus, dass vergleichbare Arbeit vergleichbar eingeordnet wird.

Der erste Schritt ist deshalb oft unbequem, aber notwendig:

  • gemeinsam mit den Fachbereichen durchgehen,
  • welche Aufgaben wirklich vergleichbar sind,
  • Rollen zusammenfassen,
  • Titel vereinheitlichen,
  • und darauf aufbauend Gehaltsbänder definieren.

Erst dann wird sichtbar, wo es Abweichungen gibt – und wo Handlungsbedarf besteht.

EU Entgelttransparenz Richtlinie – Warum das Thema wie ein riesiger Berg wirkt – und wie du ihn in Schritte teilst

Viele Unternehmen haben bereits ein HR-System, Gehaltsdaten und Stellenprofile. Und trotzdem wirkt Entgelttransparenz wie ein unbezwingbarer Berg.

Typische Fragen:

  • „Wie ziehen wir die Daten so aus dem System, dass sie uns wirklich helfen?“
  • „Ab welcher Abweichung müssen wir handeln?“
  • „Was machen wir mit historisch gewachsenen Gehältern?“
  • „Wie gehen wir mit Jobtiteln um, die gar nicht vergleichbar sind?“
  • „Was passiert, wenn jede Abweichung automatisch zu Gehaltsforderungen führt?“

Die Antwort: Struktur statt Aktionismus.

Im Interview wird deutlich: Es braucht einen klaren Fahrplan – zum Beispiel in 4–6 Modulen:

  1. Datenbasis schaffen
    • Gehaltsdaten, Stellen, Arbeitszeitmodelle, variable Bestandteile erfassen.
    • Ausreißer und Lücken identifizieren.
  2. Rollen & Titel bereinigen
    • Mit den Fachbereichen klären: Wer macht wirklich vergleichbare Arbeit?
    • Rollenprofile definieren, Titel vereinheitlichen.
  3. Gehaltsbänder & Abweichungen
    • Pro Rolle & Level Gehaltsbänder festlegen.
    • Abweichungen >5 % sichtbar machen.
    • Unterscheiden zwischen kurzfristig zu schließenden Lücken und langfristigen Anpassungen.
  4. Maßnahmenplan & Kommunikation
    • Plan über mehrere Jahre erstellen: Was wird wann angepasst?
    • Jährliche Überprüfung und Nachsteuerung verankern.
    • Kommunikationspaket bauen: Wer sagt was, wem, auf welcher Basis?

So wird aus einem unbestimmten „Berg“ ein Projekt mit klaren Etappen, an denen sich Geschäftsleitung, HR und Führungskräfte orientieren können.

Was sich ganz konkret für Recruiting & Bewerbende ändert

Transparente Gehaltsstrukturen wirken direkt in den Recruiting-Alltag hinein:

  • Die Gehalts-Blackbox endet.
  • Spätestens nach dem ersten Kontakt können Bewerbende eine konkrete Gehaltsrange genannt bekommen.
  • Missverständnisse (z. B. Vollzeit- vs. Teilzeitgehälter) werden früh geklärt.
  • Unternehmen mit fairen Strukturen können Gehaltsangaben offensiv nutzen, um sich positiv abzuheben.

Ob das Gehalt in der Stellenanzeige stehen muss, ist aktuell nicht in allen Fällen verpflichtend. Dennoch:
Wer jetzt schon klare Ranges oder Einstiegsgehälter kommuniziert, wird für viele Bewerbende deutlich attraktiver – vor allem, solange noch nicht „alle“ es tun.

Employer Branding: „Wir kümmern uns darum“ als starke Botschaft

Entgelttransparenz ist auch eine kommunikative Chance.

Du musst nicht behaupten:

  • „Bei uns ist alles perfekt.“
  • „Wir haben keine Ungleichheiten.“

Stattdessen kannst du sagen:

  • „Wir starten jetzt ein strukturiertes Projekt zur Entgelttransparenz.“
  • „Wir wollen Gehaltsstrukturen fairer und nachvollziehbarer machen.“
  • „Wir sehen das nicht nur als Pflicht, sondern als Entwicklungsschritt – gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden.“

Das sendet ein klares Signal:

  • nach innen: „Ihr könnt darauf vertrauen, dass wir das Thema ernst nehmen.“
  • nach außen: „Wir sind ein Arbeitgeber, der Verantwortung übernimmt.“

Gerade im Wettbewerb um Fachkräfte kann das ein entscheidender Unterschied sein.

Warum es sich lohnt, jetzt anzufangen

Ein Punkt zum Schluss ist zentral:

Als Einzelperson in HR lässt sich dieses Thema nicht lösen.

Es braucht:

  • Geschäftsleitung, die hinter dem Projekt steht,
  • Führungskräfte, die bereit sind, ihre Entscheidungen erklären zu können,
  • und eine gemeinsame Linie, wie über Gehalt, Transparenz und Entwicklung gesprochen wird.

Die Frage ist nicht, ob das Thema kommt – sondern wann und in welcher Verfassung dein Unternehmen dann ist.

Je früher du anfängst:

  • desto kleiner fühlt sich der Berg an,
  • desto mehr kannst du das Thema als strategischen Vorteil nutzen,
  • und desto weniger musst du später hektisch „irgendetwas zusammenmauscheln“, wenn Anfragen, Berichte oder Kontrollen kommen.

Oder anders gesagt:
Die EU Entgelttransparenz Richtlinie ist keine Bedrohung.
Richtig angegangen ist sie eine Einladung, dein Unternehmen klarer, fairer und attraktiver zu machen – für die Menschen, die schon da sind, und für alle, die noch kommen.

Wir unterstützen gerne dabei – hier informieren!

Nicole Fromhold ist Geschäftsführerin von Fromhold Consulting GmbH und seit über 18 Jahren im HR-Bereich tätig. Als Interim Managerin, Beraterin, Business Coach und Podcasterin („Leading HR“) unterstützt sie Unternehmen dabei, nachhaltige Personalstrukturen aufzubauen, Führung neu zu denken und Mitarbeiterbindung zu stärken. Ihre Arbeit verbindet strategische Klarheit mit menschlicher Empathie.